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ie Menschenrechte sollen nicht nur vom jeweiligen Staat eingehalten werden, sondern auch von seinen Bürgern. Genau das meint Artikel 29 der Menschenrechte. Darüber hinaus geht der Absatz ein Stückchen weiter. Die Staaten dürfen in die Rechte eingreifen, wenn dies dem Allgemeinwohl dient. Gerade dies abzuschätzen, ist jedoch sehr schwer und hält ein Hintertürchen für Missbrauch seitens der Politik offen.

Die Formulierung von Menschenrecht Artikel 29

1. Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung der eigenen Persönlichkeit möglich ist.
2. Jeder Mensch ist bei der Ausübung der eigenen Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.
3. Diese Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden.

Kurzinterpretation von Artikel 29

Artikel 29 soll jeden daran erinnern, dass die Menschenrechte an sich nicht nur existieren, sondern dass die Menschen auch in der Pflicht gegenüber ihren Mitmenschen stehen. So sollen sie nur in den Genuss der Menschenrechte gelangen, wenn dadurch nicht in die Rechte und Freiheiten anderer Personen eingegriffen wird. Das würde einen Missbrauch der Grundsatzidee zu den Menschenrechten darstellen. Des Weiteren besitzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keine absolute Gültigkeit. Dies bedeutet, dass die Staaten in die Menschenrechte eingreifen dürfen, sofern ein Gesetz dies ermöglicht und die Interessen der Öffentlichkeit den privaten Interessen vorangestellt sind.

Ein Beispiel: Du gehst zufällig an einer Prügelei vorbei. Dann darfst du nicht wegschauen und darauf vertrauen, dass sich das Problem schon von allein löst. Nein. Du stehst in der Verantwortung, Hilfe zu holen oder Mitmenschen um Hilfe zu bitten. Tust du das nicht, kannst du dich sogar nach § 323c StGB des Strafrechts Deutschlands im Rahmen der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen.

Ein weiteres Beispiel zielt auf die Corona-Problematik ab. Sie stellt Juristen, Politiker und alle Bürger vor große Herausforderungen. Mit ihr gingen und gehen zahlreiche Gerichtsverfahren einher, die sich mit den Freiheiten und Grenzen der Freiheit der Menschen beschäftigen.

Menschenrechte gelten auch in Krisenzeiten

Weltweit beschäftigen sich Politik und Gesellschaft mit den akuten und möglichen Folgen rund um den Virus COVID-19. Politische, medizinische und wirtschaftliche Diskurse sind entbrannt, in denen ganz unterschiedliche Stimmen zu hören sind. Eines der Hauptthemen geht auf die Einschränkung des öffentlichen Lebens ein. Gerade diesbezüglich haben Menschenrechtsinstitutionen eine wichtige Bedeutung.

Menschenrechte greifen nämlich auch in Krisenzeiten und verhelfen zu einer verbindlichen Orientierung. Sie sind ein bindender Maßstab, wie die Gesellschaft auf die Corona-Problematik zu reagieren hat. Und gerade hier liegt eine Schwierigkeit. Von dem zentralen Menschenrecht auf Gesundheit leitet sich die Pflicht ab, einen Schutz der Gesundheit für alle im gleichen Ausmaß sicherzustellen. Das darf der Staat im Rahmen einer Krise auch dann durchsetzen, wenn dadurch ein Menschenrecht beschränkt wird. In zahllosen Ländern rund um den Globus ist dies mit mehr oder weniger strikten Lockdowns geschehen.

Auf der anderen Seite gilt allerdings, dass der Gesundheitsschutz als legitimes Ziel nicht bewirken darf, dass andere Rechte übermäßig stark eingeschränkt werden oder bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminiert werden.

Aus diesem Grund haben die Verfassungsgerichte in Deutschland seit Beginn der Corona-Problematik gelegentlich von der Politik auferlegte Bestimmungen und Regeln negiert.

Die menschenrechtliche Dimension der Corona-Krise ist unermesslich. Abgesehen von dem Schutz des Lebens und dem Recht auf Gesundheit sind etliche weitere Menschenrechte sowie Grundrechte direkt oder indirekt von der Coronapolitik betroffen. Dazu zählen das Recht auf Versammlungsfreiheit oder auch das Recht auf Bildung. Zudem ist insbesondere in Zeiten einer Krise wichtig, auf Personen in verletzlichen Lebenslagen zu achten. Hierzu gehören Obdachlose ebenso wie Jugendliche, Kinder, Menschen mit Behinderungen und Senioren. Durch die Corona-Problematik verschärfen sich bereits vorhandene Ungleichheiten – in Deutschland sowie im Rest der Welt.

Streitpunkt Gewichtung der Menschenrechte: Beispiel Tschechien und die Impfpflicht

Im Frühling 2021 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass in einer Demokratie die Impfpflicht als „notwendig angesehen werden“ kann. Sie wies Klagen aus Tschechien gegen die dortige Impfpflicht für Heranwachsende ab. Das Urteil ist ein Beispiel für die Masernimpfpflicht in Deutschland. Ob es für die Corona-Problematik von Bedeutung sein wird, wird sich zeigen.

Der Hintergrund: Mehrere Eltern hatten in Tschechien geklagt, weil ihre ungeimpften Kinder nicht in den Kindergarten bzw. in die Schule gehen durften oder/und die Eltern eine Geldstrafe zahlen mussten. Bei zwei Kindern wollten die Eltern noch warten, bei einem Kind wäre aus gesundheitlichen Gründen generell keine Impfungen möglich und bei zwei weiteren Kindern wurde die Impfung aus religiösen Gründen verweigert. Das Gericht urteilte: „Die Gesundheitspolitik des tschechischen Staates sei im "besten Interesse" der Kinder – nämlich diese gegen schwere Krankheiten zu schützen, durch Impfung oder durch Herdenimmunität. Die Impfpflicht sei deshalb keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.“

In Tschechien besteht eine Impfpflicht für Kindergartenkinder. Sie bezieht sich auf neun Krankheiten, zu denen unter anderem Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Hepatitis B und Masern gehören. Dies ist das erste Urteil, welches der EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) zur Impfpflicht für Heranwachsende fällte. Rechtsexperten gehen davon aus, dass dieses Urteil die Möglichkeit stärkt, auch für Covid-19 eine Impfpflicht zu implementieren.

Impfpflicht für Covid-19?

Es steht außer Frage, dass das erwähnte Urteil für Tschechien für Aufsehen gesorgt hat. Kommt jetzt die Impfpflicht? Doch so einfach lässt sich das Urteil nicht auf Covid-19 übertragen. Warum? Menschenrechte und das Grundrecht Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt den Bürger vor staatlichen Eingriffen in das eigene Leben oder in seinen Körper. Das betrifft auch die physische Unversehrtheit sowie die Integrität und die physische Gesundheit jedes Einzelnen. Brichst du dir beispielsweise den Arm, ist es allein deine Entscheidung, ob du zum Arzt gehst oder nicht. Würde eine dritte Person einen Krankenwagen rufen, dürften dich die Rettungskräfte gegen deinen Willen nicht mitnehmen. Eine medizinische Behandlung muss grundsätzlich von dem Grundrechtträger bewilligt werden.

Der Staat steht sogar in der Pflicht, dieses Grundrecht und Menschenrecht zu wahren und zu schützen. Das bedeutet bezüglich der Corona-Problematik: 1. Du müsstest frei entscheiden dürfen, ob du dich impfen lässt oder nicht. 2. Personen, die beispielsweise durch Vorerkrankung oder hohes Alter besonders infektionsanfällig sind, müssen geschützt werden.

Und hier beginnt bereits der Streitpunkt. Wo fängt das Recht des Einzelnen an und wo hört es auf?

Des Pudels Kern liegt in der Verhältnismäßigkeit. Wann ist eine Impfpflicht und damit ein drastischer Eingriff in ein Menschenrecht verfassungsrechtlich gerechtfertigt und wann nicht? Grundsätzlich ist eine Schutzimpfung ein Eingriff in den Körper. Ein Impfstoff wird injiziert, um eine Immunisierung herbeizuführen. Somit beginnt der Schutzbereich dieses Menschenrechts nicht erst, wenn Nebenwirkungen auftreten. Er beginnt bei der Injektion des Impfstoffs. Ein Gegenargument hierfür findet sich im Infektionsschutzgesetz § 20 Abs. 6 IfSG: Es erlaubt „eine Schutzimpfung für bedrohte Teile der Bevölkerung durch Rechtsverordnung anzuordnen, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.“

Doch die viel diskutierte Impfpflicht widerspricht noch einem weiteren Menschenrecht, was weniger Beachtung findet: dem Menschenrecht Artikel 12. So erfolgt die Impfung nicht anonym, sondern die Daten des Geimpften werden gespeichert. Von einer Anonymität kann keine Rede sein.

Laut Umfrage sind 90 Prozent der Menschen nicht in der Lage, mehr als drei ihrer 30 Menschenrechte zu benennen.

👉 𝗦𝘁𝗮𝗿𝘁𝗲 𝗷𝗲𝘁𝘇𝘁 𝗱𝗮𝗺𝗶𝘁, 𝗗𝗲𝗶𝗻𝗲 𝗥𝗲𝗰𝗵𝘁𝗲 𝗮𝗹𝘀 𝗠𝗲𝗻𝘀𝗰𝗵 𝘇𝘂 𝗸𝗲𝗻𝗻𝗲𝗻 𝘂𝗻𝗱 𝘀𝗰𝗵𝗮𝘂 𝗗𝗶𝗿 𝗱𝗲𝗻 𝗩𝗶𝗱𝗲𝗼 𝗱𝗲𝗿 𝗚𝗲𝘀𝗰𝗵𝗶𝗰𝗵𝘁𝗲 𝗗𝗲𝗶𝗻𝗲𝗿 𝗠𝗲𝗻𝘀𝗰𝗵𝗲𝗻𝗿𝗲𝗰𝗵𝘁𝗲 𝗮𝗻 👉 [𝗩𝗜𝗗𝗘𝗢] Meine Rechte als Mensch

‍Weitere Informationen und Quellen zum obigen Thema:

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Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash

Publiziert am
Sep 1, 2021
 in Kategorie:
Gleichheit

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